In Magdeburg wird gegenwärtig der Fall Stephan B. verhandelt. Ich gehe davon aus nicht erklären zu müssen, was B. getan hat. Dagegen möchte ich jedoch kurz erzählen, was nach der Tat vor Ort, in Halle, passiert ist.
Noch am gleichen Tag versammelten sich einige Hallenserinnen und Hallenser auf dem Marktplatz. Auch in den Tagen danach kam man zu Mahnwachen zusammen. Die Bilder gingen durch die Medien. Neben der Anteilnahme versuchte man auch gleichzeitig klarzustellen, dass Halle bunt und weltoffen sei, mit der Tat seien „wir alle“ gemeint, für Antisemitismus und Rassismus gebe es hier keinen Platz.
Wie ernst es der Bevölkerung war, wurde aber erst so richtig deutlich, als Mark Forster und Co. bei einem Live-Konzert auftraten, das in Folge auf den Anschlag veranstaltet wurde. Jetzt schien nicht nur ganz Halle, sondern auch die Letzten aus dem benachbarten Saalekreis bereit gewesen zu sein, ein gemeinsames Zeichen „für Toleranz, ein friedliches Miteinander und gegen Hass und Ausgrenzung“ zu setzen. Das Konzert war selbstverständlich kostenlos. Als am nächsten Tag die Bühne abgebaut wurde, schien die Welt wieder in Ordnung.
Mich erinnerte das an ein Ereignis aus dem Jahr 2013. Damals berichtete DER SPIEGEL unter der Überschrift „Das Experiment“ über den Wahlkampf des Hallensers Karamba Diaby, der gerade für den Deutschen Bundestag kandidierte. Der Autor des Artikels, Gordon Repinski, reiste extra nach Halle, um sich persönlich mit Diaby im Eiscafé Softi zu treffen. Das abgedruckte Ergebnis dieses Besuchs hat dann jedoch einiges Furore in der Saalestadt gemacht. Was war los?
Der Leser wurde von Repinski darüber aufgeklärt, dass Halle eine „Hochburg des Rechtsradikalismus“ sei. In manchem Vierteln hole die NPD fast zehn Prozent der Stimmen, außerdem sei es für „dunkelhäutige Menschen“ in einigen Ecken der Stadt sogar lebensgefährlich. Kurzum: das Vorhaben Diabys als gebürtiger Senegalese in den Bundestag einziehen zu wollen, sei in Hinblick auf dessen Wahlkreis ein Experiment.
Vor Ort sah man die Stadt zu Unrecht am Pranger und hielt dagegen. Man mahnte fehlende Quellen an, betonte, wie viel man im Kampf gegen Rechts schon erreicht hätte. Und auch damals war bereits zu hören, dass in Halle kein Platz für Rechtsextremismus und Fremdenhass sei und zwar „in keinem Stadtteil“. Die Polizei muss es ähnlich gesehen haben, immerhin wurde sechs Jahre später, am höchsten jüdischen Feiertag, die Synagoge nicht von Polizeibeamten, sondern nur von einer Holztür geschützt.
Aber zurück zum SPIEGEL-Beitrag. Auch Diaby zeigte sich „frustriert und entsetzt“. Und in der Tat erscheint es zunächst so, als wollte der Autor etwas zu viel des Guten oder viel mehr des Bösen. Es stellte sich beispielsweise heraus, dass dem genannten NPD-Wahlergebnis real acht oder neun Stimmen entsprachen. Keine Frage, das ist unschön, klingt aber weit weniger dramatisch als zehn Prozent eines Stadtviertels. Auch den Titel „rechtsradikale Hochburg“ scheint das Hamburger Leitmedium eher inflationär zu vergeben, jedenfalls verrät die Google-Suche, dass es eine Vielzahl solcher Hochburgen geben muss – übrigens befinden sich fast alle in Ostdeutschland.
Auch wenn man Repinskis Darstellung als Übertreibung kritisieren kann, ein Phänomen macht sie trotzdem oder gerade deswegen sichtbar. Sobald im Raum steht, dass Rechtsradikale bzw. Rechts-extreme irgendwo ihr Unwesen treiben, ist der wahrgenommene oder befürchtete Imageschaden am entsprechenden Ort zu groß, um noch sachlich über Probleme reden zu können. Vor lauter Weltoffenheits- und Toleranzbekundungen wird vergessen, dass sich Rechtsextreme nicht für Weltoffenheit und Toleranz interessieren.
Am Morgen des 15. Januars dieses Jahres meldete sich ein Mitarbeiter Diabys bei der Polizei. In der Scheibe des Wahlkreisbüros, das Mitten in der Innenstadt liegt, waren Einschusslöcher zu finden. Kurze Zeit später hat jemand die Löcher mit Rosen gefüllt. Der Täter konnte bis heute nicht ermittelt werden.
https://www.presseportal.de/pm/7880/4404391
https://www.spiegel.de/spiegel/print/d‑91768478.html
https://hallespektrum.de/nachrichten/politik/nazi-hochburg-halle-entsetzen-ueber-spiegel-artikel/38914/
https://www.spiegel.de/spiegel/spiegelblog/halle-an-der-saale-ein-schwarzafrikaner-kandidiert-fuer-den-bundestag-a-892282.html#
Beitragsbild: Der Marktplatz in Halle gilt als einer der schönsten Deutschlands. (Foto: Maximilian Werner)