Es ist Mitte September 2019. Ein guter Freund aus Frankfurt (am Main, denn es ist immer Frankfurt am Main, wenn man nichts weiter sagt) und ich sitzen in einer Bar. Tagsüber war es noch einmal warm gewesen, doch so langsam lässt sich nicht mehr leugnen, dass der Sommer vorbei ist. »Wie bitte?«, frage ich, und wegen der lauten Musik sagt er es noch einmal, wobei ich es beim ersten Hören schon verstanden hatte: »Was du als Ostdeutscher zu den Wahlergebnissen in Brandenburg und Sachsen sagst?« – Ich, Ostdeutscher? Ob man mir ansehen konnte, wie ich innerlich zusammenzuckte?
Ich wurde im Mai 1990 in Thüringen geboren und lange Zeit war meine Geburtsurkunde des Arbeiter- und Bauernstaates das einzige, wovon ich dachte, dass es mich mit der DDR oder Ostdeutschland verbände. Ich wuchs auf mit Pokémon, Schröder, D‑Mark und Modem. Mit Umschulungen und ABMs meiner Eltern, der Einführung des Euro und 9/11. Ich schaffte das Gymnasium nicht, machte einen Realschulabschluss, dann eine Ausbildung zum Industriemechaniker. Irgendwann holte ich mein Abitur nach, später studierte ich. Ich bin wahrscheinlich das, was man einen Bildungsaufsteiger nennt, oder ein Arbeiterkind. Dass ich aber ostdeutsch sein oder wegen meiner Herkunft als ostdeutsch wahrgenommen werden könnte, war lange Zeit nichts, was für mich eine Wirklichkeit hatte. Doch mein Zusammenzucken war nicht nur Ausdruck einer Abwehr, sondern auch das Erschrecken darüber, dass da etwas benannt wurde, das ich mir selbst kaum zugestehen wollte. Ich kam ja aus dem Osten. Warum war mir das so unangenehm?
Die eingangs erwähnte Anekdote war beileibe nicht die erste Situation, die diese Art von Irritation in mir hervorrief. Da gab es die Diskussionen über Dialekte, bei denen die ökonomisch gut gestellten Gegenden immer am besten wegkamen und in der alten Bundesrepublik lagen. Die Ossi-Witze, die im besten Fall nur langweilig, im schlechtesten verletzend waren. Aber auch mein Schmunzeln, wenn jemand im Uni-Seminar in breitem Sächsisch sprach. Und wie oft wurde mir gesagt, dass man mir meine Herkunft gar nicht anhöre. Überhaupt: Das tiefe Bedürfnis in mir, nicht als Ostdeutscher erkannt zu werden, gepaart mit der Fähigkeit, jeden anderen Ostdeutschen mühelos sofort zu erkennen. Umso höher meine formale Bildung, desto weniger schien es mir angebracht, ostdeutsch zu sein.
Wenn ich etwa aufgrund meiner Herkunft nicht wusste, wie ich mich in einer mir unbekannten Situationen verhalten sollte; wenn ich feststellte, dass man mir meine Herkunft anmerkte oder ich meinem Selbstbild nicht entsprach, schämte ich mich. Sich zu schämen, das heißt, seinen Ansprüchen oder einer gefühlten Norm nicht gerecht zu werden. Anspruch und Wirklichkeit gehen dann auseinander, und das Selbst wird mit seinem Ungenügen konfrontiert. Gut, ich kam aus dem Osten, Ostdeutschland, den Neuen Bundesländern – doch wovor genau schämte ich mich eigentlich?
März 2020: In einem Interview[1] mit der ZEIT fragt Jana Hensel im Zusatzteil »ZEIT im Osten« Marco Wanderwitz (CDU), den Ostbeauftragten der Bundesregierung, eine einfache Frage: »Fühlen Sie sich ostdeutsch?« Wanderwitz ist 1975 in Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, geboren, studierte in Dresden und Potsdam, war Rechtsanwalt in Leipzig. Seit 2002 ist er Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Chemnitzer Umland/Erzgebirgskreis II. Seine Antwort: »Ich würde mich nicht als Ostdeutscher [sic] bezeichnen. Ich bin Deutscher, ich bin Europäer, ich bin Sachse, ich bin Erzgebirger. Aber ich bin kein Ostdeutscher.« Natürlich darf Wanderwitz sein, was er mag. Aber es ist bezeichnend, dass er nicht imstande ist, seine ostdeutsche Herkunft zu benennen.
Denn wenn man ehrlich ist, haben allein DDR und Wiedervereinigung kollektive Erfahrungen hervorgebracht, die spezifisch ostdeutsch sind. Für die DDR wäre das etwa die Erfahrung von Stasi, FDJ und Klassenfeind, ebenso die Anerkennung im Beruf, das Gefühl des Gebrauchtwerdens, ein anderes Frauenbild, der ständig beschworene Zusammenhalt im Sozialismus. Und auch die letzten dreißig Jahre sind für die ostdeutsche Erfahrung entscheidend. Der Bevölkerungsverlust von 3,7 Millionen – einem Viertel! – der ehemaligen DDR-Bevölkerung bei zeitgleichem Zuzug von 2,5 Millionen Westdeutschen. Dass allein in den fünf Jahren nach der Wende schätzungsweise 80% der ehemaligen DDR-Bürger ihren Job wechselten oder verloren. Nicht zuletzt der Austausch der ehemaligen Eliten und dass sich das komplette gesellschaftliche Gefüge mit einem Schlag änderte.
Wanderwitz aber betont in dem Interview, er wolle und müsse sich eben nicht von anderen Bundesländern abgrenzen, deshalb bezeichne er sich nicht als Ostdeutschen. Dass für ihn aber schon das Benennen seiner Herkunft ein Abgrenzen darstellt, zeigt, wie schambehaftet ihre Anerkennung ist. Dabei müsste doch für ihn das Benennen von Herkunft eben bloß das Benennen von Herkunft sein. Doch so einfach ist es nicht.
Folgt man Annette Simon, der Psychotherapeutin und Essayistin, gingen »viele Ex-DDR-Bürger der Auseinandersetzung mit ihrem psychologisch und sozialen Geprägtsein durch die DDR aus dem Weg […], weil sie einerseits nach 1989 extremen existenziellen Anforderungen ausgesetzt waren und weiterhin sind – und weil die Art ihres Andersseins meist als minderwertig und selbst verschuldet behandelt wurde.«[2] Diese Minderwertigkeit und das Anderssein kenne ich, kennen auch viele andere Nachwendekinder nur zu gut. Die Scham vor der Auseinandersetzung oder dem Gleichmachen mit der eigenen Herkunft, diese Ostscham, hat verschiedene Gründe. Insbesondere ist sie die Angst davor, dass die eigene Biografie auf ein Attribut zusammengestaucht wird: »Ostdeutsch« – wie ein Bannspruch. Dann ist man eben der Ostdeutsche. Redet wie ein Ostdeutscher, sieht aus wie ein Ostdeutscher, jammert wie ein Ostdeutscher. Das hat genauso viel mit Ostdeutschland wie auch mit Westdeutschland zu tun: Mit Ostdeutschland, weil Wende- wie auch Nachwendegeneration nicht mit der ostdeutschen Vergangenheit, dem grassierenden Rechtsradikalismus, mit vermeintlicher Rückständigkeit, Provinzialität, Armut gleichgesetzt werden wollen. Und genauso viel mit Westdeutschland, weil das Bild des Osten von starken Zuschreibungen geprägt ist: Da der braune, zurückgebliebene Osten, der immer noch Demokratiedefizite hat, da die Leute, denen wir immer noch Soli zahlen und die, anstatt uns dankbar zu sein, nun in Chemnitz auf die Straße gehen.
Es verwundert nicht, dass auch der mediale Blick auf den Osten heute noch ein Blick von außen ist. Die Strukturen dahinter sind einfach zu benennen, schließlich sind nahezu alle großen deutschen Medienhäuser auf dem Gebiet der alten BRD, die Chefredaktionen größtenteils aus dem alten Gebiet der Bundesrepublik und mit ostdeutschen Stereotypen aufgewachsen. Diese zeigen sich auch noch im 30. Jahr der Wiedervereinigung. So regt sich etwa, seitdem die ARD Prüfpläne publik machte, Institutionen eventuell nach Halle, Leipzig oder Erfurt ziehen zu lassen, bei den Beschäftigten in München und Frankfurt nicht nur Unmut, sondern unverhohlener Widerstand dagegen. Man möchte eben nicht in die, Zitat, »Sahel-Zone«[3] ziehen. Mitarbeiter sollen bei einem möglichen Umzug gar mit Suizid gedroht haben. Keineswegs ist deshalb jegliche Berichterstattung von Vorurteilen geprägt. Doch wenn, folgt sie einem alten Muster, dessen Sinnhaftigkeit auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung nicht ins Wanken geraten scheint: Wir und die. Als etwa in Köln 2014 ca. 3000–5000 rechtsextreme, gewaltbereite »Hooligans gegen Salafisten« aufmarschierten, ist zu Recht niemandem eingefallen, das als westdeutsches Phänomen zu bezeichnen. Chemnitz 2018 dagegen galt vielen Beobachtern als typisch ostdeutsch. Hier gehen nicht Menschen, sondern gleich ein ganzer Landstrich auf die Straße. Dass das genauso wahr wie unwahr ist, ist leider eine selten gehörte Einschätzung.
Teilweise wurden in Ostdeutschland die Schuldzuweisungen und westdeutschen Projektionen fraglos übernommen. Auch daher sicherlich das Wir-Gefühl im Osten, das nicht selten gleichzeitig Scham wie Stolz ist. Eine Scham, die darum weiß, dass das Leben in der DDR höchst widersprüchlich war – und dass die meisten dennoch nichts dagegen unternahmen. Dazu die Scham, dass man das Land war, das ökonomisch kaputt ging, das wiederaufgebaut werden, sich eingliedern musste. Doch gleichzeitig der Stolz, der sagt: Wir haben es dennoch überstanden. Wir haben nach dem Krieg ein ganzes Land aufgebaut. Wir haben das Auf und Ab der Wiedervereinigung geschafft. Wir sind nicht kleinzukriegen. »Es war nicht alles schlecht«, wie man so oft hören kann. Das ist wahrlich kein Gewinnerstolz, schon mehr ein Trotzdem-Stolz, nicht selten auch ein Mittelfinger-Stolz. Man muss sich nur Ostdeutschland-Aufkleber, T‑Shirts, Sprüche anschauen. Egal wo man hinschaut also: Wir und ihr, immer wieder.
In einem schon oft diskutierten SPIEGEL-Newsletter schreibt Sophie Passmann darüber, in Eisenach zu stranden. Passmann ist erschüttert von der »Trostlosigkeit« und findet nicht ein einziges Hotel, in dem sie gern übernachten wollte. Später, in einem Interview mit Valerie Schönian in der ZEIT (11/18), sagt Passmann dazu: »Ich habe in Eisenach zum ersten Mal gemerkt, dass ich eine eigene westdeutsche Arroganz besitze. Dass ich mich als Wessi fühle, hätte ich nie gedacht. Um mich als das Andere zu empfinden, musste ich erst mal in den Osten. Gleichzeitig fällt mir auf, dass ich nicht einen einzigen Ostdeutschen nennen könnte, mit dem ich befreundet bin. Ich habe bestimmt ostdeutsche Freunde – aber vergesse einfach deren Herkunft.« Hier, bei den Freunden, die wissen ihre Herkunft zu verbergen, wird die Scham als ostdeutsch gelabelt zu werden offenbar. Sie wissen ihre Herkunft zu verbergen, aus Scham, nur noch als Ossi gesehen zu werden. Ostscham, das ist die Angst davor, durch die Herkunft auf eine Identität reduziert zu werden.
Ostscham ist dabei nichts Unbewusstes, im Gegenteil. All »die psychologischen Mechanismen in der Abwehr peinlicher und unangenehmer Erinnerungen dienen höchst realitätsgerechten Zwecken«, wie Adorno in seinem bekannten Essay »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« schreibt. Der schamhafte Umgang mit der eigenen Herkunft und Vergangenheit ist demnach vielmehr ein aktiver Vorgang. Er ist ebenso die Angst davor, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie von den Zuschreibungen der anderen überlagert wird, wie wohl auch die Angst vor der Vergangenheit selbst. Wie in der eingangs beschriebenen Szene: Zwar komme ich aus Ostdeutschland und bin stark durch diese Herkunft geprägt. Aber trotzdem habe ich Angst davor, als Ostdeutscher erkannt oder angesprochen zu werden. Denn der Umgang mit der ostdeutschen Herkunft ist eben gerade nicht das, was viele behaupten, und zwar etwas Gleichgültiges. Wenn dem so wäre, könnte man sie vergessen, wäre sie nicht so präsent. Die Angst aber als Ostdeutsche® erkannt zu werden ist nicht nur echt, sie hat auch gute Gründe. Ostscham bedeutet daher: Eine Differenz an sich zu bemerken und sie gleichzeitig nicht artikulieren zu wollen.
Doch Scham ist im Umgang mit Herkunft und Vergangenheit ähnlich fehl am Platz wie das Vergessen. Sie führt zu nichts. Sie erdrückt nur. Das aber darf nicht dazu führen, das Benennen der Herkunft verschleiern zu wollen. Sie hat ja einen Kern, der zu Recht artikuliert werden sollte. Ostdeutsch, so ambivalent dieser Begriff ist, bringt doch eine Herkunft, Mentalität, auch Geschichte und Tradition mit sich. Ganz zu schweigen von den geringeren Chancen, Vermögen, Repräsentanz in Führungspositionen. Anstatt sich von dem Begriff zu verabschieden oder ihn zu meiden, müsste es darum gehen, sich nicht von ihm erdrücken zu lassen und seinen Kern herauszuarbeiten. Nicht um ihn verschwinden zu lassen, sondern ihn erst einmal verwendbar zu machen. Nicht, um nicht mehr zu sprechen, sondern um das Sprechen überhaupt erst zu ermöglichen.
Das jedoch geht nur, wenn der Umgang mit Herkunft ohne Scham und das Anerkennen eines Unterschiedes ohne das Gefühl von Minderwertigkeit erfolgen würde. Die Impulse aus der Nachwendegeneration, die ostdeutsche Prägung zu benennen und die Scham nicht mehr zu verdrängen, sind deshalb sehr zu begrüßen[4]. Diese Impulse aber haben zwei Gefahren: Erstens die eines falschen Stolzes, der sich aus dem Thematisieren der eigenen Erfahrung entwickeln kann und ostdeutsch zu einem Kampfbegriff machen könnte. Um dem zu entgehen, sollte der Begriff nicht verwendet werden, um sich abzugrenzen, sondern um sich verständlich zu machen. Nicht, um Differenzen auf‑, sondern abzubauen. Zweitens gibt es die Gefahr des Ausbleibens oder Abwürgens des Diskurses, sozusagen von außen, indem die bundesdeutschen Medien kein Interesse an der Debatte zeigen oder sie diskreditieren. Dem könnte nur entgangen werden, wenn der – insbesondere mediale – Blick auf den Osten einer würde, der nicht auf das Andere blickt; keiner, dessen Antrieb Schau- und Sensationslust ist, sondern ehrliches Interesse und Verstehenwollen. Ein differenzierter Blick auf Augenhöhe also, der nicht ganze Landstriche homogenisiert, sondern die Möglichkeit verschiedener Biografien trotz kollektiver Erlebnisse aufzeigt. Das muss nicht zu Liebe oder Verständnis führen, das darf sogar in Unverständnis und Ablehnung enden. Aber vor der Annäherung dürfte nicht schon ihr Ergebnis stehen. Ostdeutsch, das könnte etwas sein, das nicht per se mit Rückständigkeit, Jammern Gewalt oder Nazis zu tun hat, auch nicht mit einem Gemeinmachen mit der DDR oder deren Relativierung. Sondern einfach mit dem Anerkennen, dass man ostdeutsch sein kann, ohne gleich der oder die Andere zu sein. Denn biografische Erfahrungen sind nicht deterministisch. Sie geben noch überhaupt nichts vor.
Vielmehr ist es eigentlich nicht. Oder besser gesagt: Ostdeutsch, das müsste viel weniger sein, als es momentan ist.
(Photo by Caleb Woods on Unsplash)
[1] »Ich würde mich nicht als Ostdeutscher bezeichnen«, ZEIT im Osten Nr. 10/2020
[2] »Wenn Familie zu sehr wärmt«, DIE ZEIT Nr. 28/2019.
[3] »Die ARD entdeckt den Osten – und zieht um«. Tagesspiegel, 29.02.2020
[4] Genannt seien hier die Initiativen »Wir sind der Osten«, »Netzwerk 3te Generation Ostdeutschland« und »Aufbruch Ost«. Als Bücher »Ostbewusstsein« von Valerie Schönian und »Nachwendekinder« von Johannes Nichelmann.