Es gibt Sätze, die lassen einen nicht los. Sie haften dem Denken an, schleichen sich in die Gespräche und Gedanken ein. Man denkt sie immer und immer wieder neu – doch sie lassen sich nicht ablegen. Einer dieser Sätze haftete mir seit der Lektüre von Steffen Maus Lütten Klein – vielleicht dem Buch der letzten Jahre über die DDR und die ostdeutsche Transformation – an: »Laut einer Allensbach-Umfrage sehen nur 42 Prozent der Ostdeutschen die Demokratie als beste Staatsform an; im Westen sind es 77 Prozent.« Ich weiß noch, wie ich nach diesem Satz auf Seite 13 erst einmal das Buch wieder zuklappte. Zweiundvierzig Prozent. War der Osten doch verlorener als ich es wahrhaben wollte?
Um einen Spuk zu beenden, muss man bekanntlich das Zauberwort sprechen. Und so meinte, nachdem ich schon etliche meiner Freunde und Familienangehörige damit belagert hatte, ein Freund – von Haus aus Politikwissenschaftler –, dass ich mir die Umfrage doch einmal genauer anschauen sollte. Manchen Erhebungen sei ohne Weiteres nicht zu trauen, und manchmal werden Zahlen ungenau wiedergegeben oder falsch interpretiert. Ihm jedenfalls kämen die Zahlen seltsam vor.
Die Datenlage – Bedeuten 42 Prozent 42 Prozent?
Also warf ich einen Blick in das Literaturverzeichnis. Darin verweist Mau in Bezug auf die 42 Prozent auf einen Artikel der FAZ vom 23. Januar 2019 mit der Überschrift »Allensbach-Umfrage: Ostdeutsche haben wenig Vertrauen in Staat und Demokratie«. Die von der FAZ in Auftrag gegebene Umfrage untersucht, inwiefern sich West- und Ostdeutschland 2019 unterscheiden. Dabei wird ein komplexes Stimmungsbild erhoben, das ökonomische, gesellschaftliche und politische Faktoren abbildet. Neben der subjektiven Einschätzung der materiellen Situation werden auch Parteisympathien, die Akzeptanz von Migration und nicht zuletzt das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen erfasst. Kern der Umfrage – oder zumindest der Teil, der später medial zirkulierte – ist mit »Was trennt die Menschen?« überschrieben. Hier fanden sich auch die 42 Prozent, die ich nicht glauben konnte.
Schaut man genau hin, ist die Aussage – zu der Mau kommt –, es »sehen nur 42 Prozent der Ostdeutschen die Demokratie als beste Staatsform an«, verkürzt. Denn die Frage ist komplexer. Es wurde gefragt, ob »die Demokratie, die wir in Deutschland haben, die beste Staatsform ist« (Herv. n. i. O.). Das bejahen zwar 42 Prozent der Befragten in Ostdeutschland. Doch die Frage ist dahingehend uneindeutig – und damit schlecht gestellt –, da sie nicht nur eine Frage nach der Staatsform, sondern ebenso eine Frage nach der Umsetzung der Staatsform ist. Der Superlativ »beste Staatsform« tut ein Übriges, die Frage in den falschen Hals zu bekommen.
Die Tabelle rechts in der Abbildung unterstützt diese Interpretation: Die Frage, ob es ein Wirtschaftssystem gibt, das besser ist als die Marktwirtschaft – ohne den Zusatz »die wir in Deutschland haben« – bejahen in Ost wie West nur ein sehr kleiner Prozentsatz. Jedoch sind Ostdeutsche weniger überzeugt davon, dass es keine bessere Alternative gebe. Dazu gibt es bei den Ostdeutschen deutlich mehr Enthaltungen. Die Frage scheint also im Osten weniger klar zu beantworten zu sein. Das hat natürlich seine Gründe.
Denn vielmehr als der Unmut am politischen System selbst drückt sich in den Umfragewerten oben der Unmut darüber aus, wie das politische System ausgestaltet ist. Das offenbaren nämlich die Allensbach-Umfrage und der FAZ-Artikel auch: Im Osten gibt es mehr Arbeitslose, geringere Löhne, weniger Rente. Dazu hat auch der Strukturwandel seine Spuren, um nicht zu sagen: Narben, hinterlassen. Das Gefühl politischer Ohnmacht, die fehlende Anerkennung der Lebensleistungen der Ostdeutschen, die regelrechte »Landnahme des bundesrepublikanischen Gesellschaftsmodells« (Lütten Klein, 135) – alles das spielte in die Beantwortung der Frage mit hinein. Und all das erklärt, dass für Ostdeutsche eben gerade nicht »die in Deutschland gelebte Demokratie die beste Staatsform“ ist, sondern eine, die es noch zu erreichen gilt.
Mediale Eskalation
Doch zurück zu den 42´Prozent. Im dreißigsten Jahr der friedlichen Revolution und des Mauerfalls waren solche Zahlen natürlich mediales Dynamit – oder im Sprech der Online-Medien: Sie »klicken gut«. Und so begann die Zahl als Tatsache ein Eigenleben zu führen. So titulierte die ZEIT »Ostdeutsche haben wenig Vertrauen in Staat und Demokratie“ und wusste zu berichten: »Die Menschen in Ostdeutschland stehen der Demokratie deutlich skeptischer gegenüber als Westdeutsche.“ In das gleiche Horn blies dann auch der Tagesspiegel: »Ostdeutsche vertrauen Demokratie weniger als Westdeutsche«.
Doch die mediale Eskalation nahm nun erst ihren Lauf – wie allein die Überschriften verschiedener Artikel plastisch zeigen: »Demokratie überzeugt viele Ostdeutsche nicht«, wusste die Welt zu berichten. »Ostdeutsche sehen Demokratie skeptischer«, schrieb die Deutsche Welle und fand den Ursprung des Demokratieverdrusses »vor allem in der Biografie vieler Ostdeutscher«. Im ehemaligen Zentralorgan der SED (Neues Deutschland) spiegelte sich im Ergebnis der Umfrage gar die Skepsis der Ostdeutschen gegenüber der bürgerlichen Demokratie. Der Boulevard legte wie immer eine Schippe drauf und schrieb: »So unterschiedlich ticken Ost- und Westdeutsche: Zweifel an der Demokratie als Staatsform« (Merkur). Schließlich in der Regionalpresse angekommen, sah man in den Umfrageergebnissen vor allem eines: »Ostdeutsche unzufrieden mit unserer Staatsform« (EJZ).
Dass die Ostdeutschen vielleicht nicht mit der Staatsform an sich, sondern mit ihrer Umsetzung unzufrieden sind, verschleiern aber nicht nur die Überschriften. Auch in den Artikeln selbst wird selten klar, worauf sich die 42 Prozent tatsächlich beziehen. Dass sie nur bedingt zutreffen, weil die Frage uneindeutig gestellt war, wird von keiner der Zeitungen diskutiert. Auch wird die recht geringe Befragtenzahl von 1249 Menschen – geteilt durch zwei – nur am Rande erwähnt.
Schließlich werden die Umfragewerte nicht mit anderen Studien verglichen. Doch das hätte auch die mediale Schlagkraft der Umfrage geschmälert. Denn schon nach ein paar Minuten fände man etwa einen anderen Artikel aus der ZEIT von 2018, der zu berichten weiß, dass »die Zustimmung zur Demokratie als Idee im Osten, wo weite Bevölkerungsteile noch Erfahrungen mit einer Diktatur haben, auf über 95 Prozent angestiegen [ist], und damit höher als im Westen, wo die Demokratiezufriedenheit bei 93 Prozent liegt.« 95 Prozent vs. 42 Prozent – über das Verhältnis dieser Zahlen hätte man komplexe Diskussionen anstellen können. Hat man aber nicht. Und raten Sie mal, ob die 95 Prozent ebenso Wellen schlugen.
Ostdeutsche Bildsprache
Warum also wurden die Ergebnisse der Umfrage so stark zugespitzt? Sicherlich hat das damit zu tun, dass viele Zeitungen den Artikel aus einer Agenturmeldung – pach, dpa, RND – übernommen haben. So werden viele Zeitungen die Daten selbst wahrscheinlich nicht noch einmal angeschaut haben. Der hohe Zeitdruck in den Redaktionen und der Fokus auf Klickzahlen spielten dabei sicherlich ihr Übriges. Doch mit Zeitdruck, Klickzahlen und Nachlässigkeit bei der Recherche ist die mediale Eskalation um die magische 42 nicht zu erklären. Der Verlauf der Meldungen, die Skandalisierung und Überspitzung zeigt auch den Willen und Wunsch, ein möglichst einfaches, wenn nicht vereinfachtes Bild von Ostdeutschland wiederzugeben.
Das zeigt sich nicht zuletzt in der Bebilderung der Artikel. So sieht man im Artikel der EJZ- natürlich – eine Pegida-Demonstration mit wehenden Deutschland- und Wirmer-Flaggen. Genauso sticht das Artikelbild des Tagesspiegel hervor. Auf dem Bild stehen ein paar Menschen auf einer Wiese und klatschen. Besonders zufrieden sehen sie nicht aus. Einer von ihnen hält ein Schild mit der Beschriftung »Volksverräterin« hoch, was dem medial imaginierten Bild von den rechten, wütenden und demokratiefeindlichen Ostdeutschen entspricht. Aber so sehen Ostdeutsche auf Bildern nun einmal aus.
Das metrische Ihr
Insgesamt vermitteln die kursierenden Umfragewerte und die einseitigen Bilder Eindeutigkeiten, wo keine sind. Und so entsteht durch die mediale Skandalisierung und die Pathologisierung der Ostdeutschen ein, wie man – grob – angelehnt an Steffen Mau sagen könnte, »metrisches Ihr« (Mau 2017), das eine verzerrte Wahrnehmung über die Ostdeutschen herstellt. Es evoziert das Bild von den Ostdeutschen als ewiggestrige Demokratiefeinde, denen man es einfach nicht rechtmachen kann. Ihr Ostdeutsche, lässt sich dann behaupten, seid unzufrieden mit »unserer Demokratie«.
Dabei ist es, wie so oft, nicht so einfach. Nach einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2019 ist, wie in einem Artikel der ZEIT berichtet wird, »die Mehrheit der Deutschen, nämlich 53 Prozent, unzufrieden damit, wie die Demokratie hierzulande funktioniert«. Eine Differenz zwischen Ost und West zeigt sich auch hier, jedoch deutlich geringer als in der Umfrage vom Anfang. So ist in Ostdeutschland »etwas mehr als ein Drittel (36 Prozent) […] zufrieden mit der Art und Weise, wie die Demokratie funktioniert, gegenüber knapp der Hälfte (49 Prozent) im Westen.« (ebd.) Und man müsste sich Fragen, ob Faktoren wie geringeres Einkommen, Bildung und das Leben auf dem Land nicht die Unterschiede erklären – also die Ergebnisse mehr mit strukturellen Unterschieden als mit ostdeutschen Mentalitäten zu tun haben.
»Was trennt die Menschen?«
Was aber der Allensbach-Studie zu entnehmen ist und worauf auch Mau in Lütten Klein verweist, ist dass die Hälfte (52 Prozent) der Ostdeutschen findet, dass die Herkunft, also ob man aus West- oder Ostdeutschland stammt, auch 2019 noch entscheidend für die Unterschiede in unserer Gesellschaft ist. In den alten Ländern hingegen wurde gerade dieses Problem nur wenig wahrgenommen (26%). Hätte man die Skandalisierung der 42 Prozent vermieden – vielleicht hätte gerade das ein guter Ausgangspunt für ein Gespräch zwischen Ost und West sein können.
Insgesamt zeigt sich, dass die mediale Eskalation um die Zahl 42 in keiner Weise gerechtfertigt war. Auch Steffen Mau müsste man vorwerfen, an dieser Stelle ungenau gearbeitet zu haben. Neben weniger Vertrauen in die Demokratie werden Ostdeutsche durch diese Art von Berichterstattung wohl eher weniger Vertrauen in eine faire Berichterstattung entwickeln. Die Gretchenfrage einer offenen Gesellschaft – »Wie hast du’s mit der Demokratie?« – ist natürlich an sich berechtigt. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass auch Ostdeutsche der Idee der Demokratie in großem Maße anhängen. Nur ob sie in der besten Demokratie leben – das geht ihnen dann doch zu weit.
Ein bisschen ruhiger schlafen kann ich nun auch wieder und die 42 Prozent weiß ich nun besser einzuordnen. Dass mit Ostdeutschland alles in Ordnung ist, soll damit nicht gesagt sein. Aber darum machen wir das ja hier. Zum Schluss, um zu zeigen, dass es trotzdem auch anders ginge, möchte ich ein paar Alternativüberschriften, die allein aus Zitaten des FAZ-Artikels bestehen, vorschlagen:
Als Wohlstandsverlierer sehen sich über die letzten Jahre hinweg 18 Prozent der West- wie der Ostdeutschen. (FAZ)
Im Westen sind 56 Prozent der Rentner mit der Höhe ihrer Rente zufrieden, im Osten 50 Prozent. (FAZ)
Drei Jahrzehnte nach dem Ende der Teilung hat die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung weiterhin den Eindruck, dass zwischen Ost und West eine Trennlinie verläuft. (FAZ)
Das Vertrauen, dass der Staat seinen Aufgaben gerecht wird, ist in Ostdeutschland signifikant niedriger als in Westdeutschland. (FAZ)
Ost- und Westdeutsche gleichermaßen optimistisch in dieses Jahr gestartet. (FAZ)
Beitragsfoto: Jula2812 / CC BY-SA
Links und Literatur:
DW – Ostdeutsche sehen Demokratie skeptischer
EJZ – Demokratie-Umfrage: Ostdeutsche unzufrieden mit unserer Staatsform
FAZ – Allensbach-Umfrage: Ostdeutsche haben wenig Vertrauen in Staat und Demokratie
Friedrich-Ebert-Stiftung – Studie: Vertrauen in Demokratie
Mau, Steffen 2017 – Das metrische Wir: Über die Quantifizierung des Sozialen
Mau, Steffen 2019 - Lütten Klein- Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft
Neues Deutschland – Ostdeutsche skeptisch gegenüber bürgerlicher Demokratie
tagesspiegel – Allensbach-Umfrage: Ostdeutsche vertrauen Demokratie weniger als Westdeutsche
ÜBERMEDIEN – Es ist UNGLAUBLICH, was ich als Klick-Journalist erlebt habe
Welt – Demokratie überzeugt viele Ostdeutsche nicht
Wikipedia – Wirmer-Flagge
ZEIT – Allensbach-Umfrage: Ostdeutsche vertrauen der Demokratie weniger als Westdeutsche
ZEIT – Mehrheit der Deutschen ist demokratieverdrossen’
ZEIT – Autoritarismus-Studie - 40 Prozent der Deutschen können sich ein autoritäres Regime vorstellen