Preisfrage: Was passiert, wenn man »Ostdeutschland« bei der Google-Bildsuche eingibt? Klar. Es erscheinen Bilder des Mauerfalls, glückliche Menschen, blühende Landschaften. Ja? Nein. Es erscheint, kurzum, nichts Gutes. Das erste Bild, gefolgt von vielen Ost-West-Karten, zeigt ein zerfallenes Haus, vor dem eine Person auf einem Damenfahrrad vorbeifährt. Der Putz bröckelt von den Hauswänden, die Fenster sind verbarrikadiert. Das Bild, das man oben sieht, es ist von 2017, weckt schlimmste Assoziationen. Der Osten: Ein Trümmerfeld, auch heute noch. In diesem Artikel soll es um dieses spezielle Bild gehen; und um das allgemeine Bild vom Osten.
Augustinus und Ostdeutschland
Ja, wie sieht er eigentlich aus, der Osten? Ich habe ihn selbst oft durchquert, zu Fuß, mit dem Rad, dem Auto, dem Zug; war in seinen Nationalparks und Hauptstädten, in vielen Klein- und den wenigen Großstädten, an Küsten und Gebirgen, Rändern und Zentren. Ich bin in und mit ihm aufgewachsen, hab ihn von außen wie von innen gesehen. Ich weiß, wie er schmeckt (für mich ganz klar nach Thüringer Klößen, Rostbratwurst, Hefeblech- und Zupfkuchen, Döner und Jägerschnitzel). Und wenn er einen Geruch hätte, dann irgendetwas zwischen Waldduft und Moped-Abgasen. Fotos habe ich auch einige von ihm gemacht, aber das eine Bild?
»Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht«, sagt Augustinus, leider jedoch über die Zeit, nicht über Ostdeutschland. Aber Augustinus hat natürlich Recht (hust). Es gibt Dinge, die werden, wenn man sie versucht zu beschreiben, nicht klarer, sondern verlieren im Gegenteil an Schärfe. Besonders solche, die größer sind als ein Ausschnitt, ein Bild, eine Perspektive.
Das gilt besonders für Räume kollektiver Identität. Ihnen wird man niemals mit nur einem Bild gerecht, wahrscheinlich nicht einmal mit ein paar hundert. Und trotzdem stellt man sie dar, etwa in Karten und Fotografien, weil sie, auch wenn sie nicht wahr, so doch wenigstens nicht ganz verkehrt. Sie erst ermöglichen, über die Dinge zu sprechen, die zu weit von jedem und jeder Einzelnen weg sind und trotzdem eine so große Rolle spielen. Bilder sind also per se nicht neutral.
Ostdeutschland, eine mediale Projektion?
Das gilt natürlich auch, wenn nicht sogar besonders, für Bilder von Ostdeutschland. Diese sind in erster Linie medial geprägt, sei es durch klassische, sei es durch neue Medien. Das wäre nicht weiter schlimm, wäre der Blick auf Ostdeutschland dabei nicht ein so voreingenommener. Denn er ist ein Blick von außen: Nicht nur liegen nahezu alle großen deutschen Medienhäuser auf dem Gebiet der alten BRD. Auch die Chefredaktionen der großen gesamtdeutschen Zeitungen sind nahezu ausschließlich mit Personen besetzt, die aus dem alten Gebiet der Bundesrepublik kommen (siehe SPIEGEL, ZEIT, Bild, FAZ). Sie sind in Bonn, Essen und Karlsruhe, in Bochum, Dortmund und Frankfurt geboren und aufgewachsen und haben die Zeit des Eisernen Vorhangs aktiv miterlebt. Vielmehr noch: Sie wurden sozialisiert in einer Zeit, in der der Systemkampf noch aktuell war. Es wäre regelrecht verwunderlich, wenn gerade sie ein unvoreingenommes Bild von Ostdeutschland hervorbringen würden.
Keineswegs ist deshalb jegliche Berichterstattung von Vorurteilen geprägt. Doch wenn, folgt sie alten, stereotypen Argumentationsmustern. Ostdeutschland ist dann der Ort von all dem, was man selbst nicht sein mag: Das Rückständige und Unterentwickelte, das Faschistische und Hässliche (dazu auch Annette Simons »Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin«, S. 35), das Unaufgeklärte und Geschichtsunbewusste. Der Blick auf den Osten – das ist seit nun schon dreißig Jahren in erster Linie der Blick auf die Anderen (Sehr zu empfehlen an dieser Stelle die ernüchternd-erhellenden Beispiele dazu auf einwende.de).
Diese Macht, über die Wahrnehmung von Kollektiven zu entscheiden, zu denen man selbst nicht gehört oder gehören muss, bringt auch auf der anderen Seite die Ohnmacht hervor, die viele Ostdeutsche auch heute noch benennen. Sie schürt den grassierenden Unmut über die Medien, weil sie sich einerseits falsch dargestellt fühlen, andererseits erleben, dass nicht unvoreingenommen, sondern gegen sie berichtet wird.
Ist also Ostdeutschland eine Projektion von West nach Ost kaum mehr als eine geographische Imagination? Das schöne am Begriff der Imagination ist ja seine im Französischen vorkommende Doppeldeutigkeit, die gleichzeitig »das Vorgestellte« wie auch das »zum Bild gehörige« bezeichnet. Denn genau das sind Bilder von Ostdeutschland: Sie gehören zum Osten und sind gleichsam Projektionen. Sie sind an sich wahr, aber nicht die ganze Wahrheit.
Das spezielle Bild vom Osten
Das Bild über diesem Beitrag gehört zu einem Artikel der Deutschen Welle, in dem es um das Wirtschaftswachstum in Ostdeutschland geht und die Gefahren, die die »regionalen Unterschiede zwischen boomenden Regionen und verarmten Landstrichen« hervorbringen. Es wird auf eine Studie verwiesen, die warnt, dass »gesellschaftliche Spaltungen bis hin zu radikalen Einstellungen« die Folge der anhaltenden Ungleichheit sind. Dem Inhalt soll hier gar nicht widersprochen werden, um so mehr der Bebilderung. Das Bild des verfallenen Hauses, es sagt eigentlich mehr über die Projektion aus als über die Wirklichkeit. Denn so sehen ökonomisch schwache Gegenden in Deutschland nicht aus, sondern Projektionen eines schlechteren, hässlicheren, kaputteren Deutschland. Die wahren Unterschiede zeigten sich nicht an verbarrikadierten Fenstern oder bröckelndem Putz. Sondern an den Einkommensunterschieden, der Eigentümerquote, dem Urlaubsverhalten. Ost und West, das ist schon lange nicht mehr die Unterscheidung zwischen Konsumparadies und Verfallsidylle.
Noch etwas anderes ist interessant an dem Bild. Denn ihm zugeordnet ist ein Text, »Deutschland Verfall der Stadt Schönebeck«, mit dem es dann anscheinend – die Wege des Google-Algorithmus sind unergründlich – an die Spitze meiner Google-Bildsuche gespült wurde. Die Stadt des Bildes oben, wenn man der Bildbeschreibung des Deutsche Welle-Artikels glauben mag, ist Schönebeck (Elbe). Dort sieht es, wer hätte es gedacht, nicht nur so aus, wie das Bild oben vermittelte. Zum Abschluss deshalb ein paar andere Imaginationen des Osten. In der Hoffnung, dass in der Zeit des Digitalen die Möglichkeit vieler Bilder, vieler Perspektiven, vieler Ausschnitte; die Annäherung an ein detaillierteres Bild des Osten endlich seine Entsprechung findet.
Eine letzte Warnung zum Ende dieses Beitrags: Man sollte auch nicht den Fehler machen und bei der Bildsuche ein Leerzeichen nach »Ostdeutschland« setzen. Sonst landet man bei »ostdeutschland hut« , fischerhut«, »rechts« und »afd«. Zur Ehrenrettung, man landet genau so bei »karte«, »verstehen«, »erzählt«, »einwohner«. Danke, Google.